Was passiert, wenn die im europäischen Kulturraum sozialisierten und ausgebildeten Künstler Japan als das Land ihrer Sehnsüchte und Wünsche tatsächlich bereisen? Welche Auswirkungen haben die reale Japan-Begegnung auf ihr künstlerisches Schaffen und welche Konsequenzen ergeben sich für ihre Vorstellungsbilder über den Sehnsuchtsort?

Anhand von Grafiken, Ölbildern und Farbholzschnitten sowie frühen Fotografien sollen in der Ausstellung „Auf nach Japan!“ erstmalig die Künstlerreisen um 1900 vor dem Hintergrund des damaligen Japonismus gezeigt und zwischen Imaginationsbildern und Realitätserfahrungen verortet werden.

Einführung

Die »Entdeckung« und die anschließende Auseinandersetzung mit Japans Kunsterzeugnissen sind grundlegend für die Weiterentwicklung der europäischen Moderne. So sind der Impressionismus, der Jugendstil und die Plakatkunst ohne die Rezeption der ostasiatischen Kunst kaum denkbar.
Eng verbunden mit dem Interesse an der fremdartigen Kunst war dabei stets die Vorstellung von Japan. Weit entfernt von Europa bot die Insel eine optimale Fläche für Projektionen. Angesichts der industriellen Revolution, der Mechanisierung und Verstädterung sehnten sich viele Bürger*innen nach einer friedvollen, einfacheren Welt, in der die Menschen fernab von der technischen Modernisierung ein autarkes, naturverbundenes Leben führen könnten. Japan wurde zu einem attraktiven Zufluchtsort, zu dem man gedanklich reisen konnte. Idealisierte Berichte, literarische Erzählungen und Fotografien bestärkten das verzerrte Japan-Bild.
Beflügelt von dieser Vorstellung unternahmen einige Kunstschaffende selbst die langwierige Reise, darunter die Maler Franz Hohenberger (1867–1941), Emil Orlik (1870–1932), Karl Walser (1877–1943) und Friedrich Capelari (1884–1950). Was fanden die Reisenden am Ziel vor? Welche Auswirkungen hatte die reale Begegnung auf ihr künstlerisches Schaffen und welche Konsequenzen ergaben sich für ihr Vorstellungsbild über den Sehnsuchtsort?
Die Ausstellung zeigt eine repräsentative Auswahl ihrer Arbeiten, darunter Bildnisse, die bislang nicht in der Öffentlichkeit zu sehen waren. Sie changieren zwischen der Suche nach dem »authentischen« und der Bekräftigung des imaginären Japan und bekunden mitunter eine stilistische Auseinandersetzung mit der ostasiatischen Kunst.

Auf die erste Begeisterung folgte schnell eine Enttäuschung, präsentierte sich Japan doch von seiner modernen Seite. Karl Walser vertraute seiner Schwester in einem Brief verbittert an, dass Japan bald wie Amerika werden wird und die Kaufleute dann die neuen Herren des Landes sind. Und Franz Hohenberger war davon überzeugt, dass die „echte japanische Eigenart“ bald verschwinden wird. Doch es gab Hoffnung: Nach einem Monat Aufenthalt resümierte Orlik in einem Schreiben an einen Freund, man sei am Anfang zwar über viele Dinge enttäuscht, aber wenn man den scheußlich modernen Firnis abnehme, dann seien die Dinge doch noch über Erwarten schön.

Welche „Realität“ gaben die Maler nun wieder? Erstaunlicherweise wurden die enttäuschten Erwartungen in den Reisebildern nicht thematisiert, sie bilden ausschließlich das „alte, traditionelle Japan“ ab. Es waren durchweg friedvolle, idyllische Szenerien, in denen das Eigene keinen Platz fand. Pinsel und Zeichenstift wurden zu einem Filter für das Interessante, Unbekannte und Exotische. Auf diese Weise bestärkten die Reisekünstler das in Europa zirkulierende wirkmächtige Japan-Bild. Wenn nicht über den Bildinhalt, so hatte die Reise doch das Potenzial, eine stilistische und technische Auseinandersetzung mit der japanischen Kunst vor Ort zu erlauben: Emil Orlik und Friedlich Capelari setzten sich in Japan intensiv mit dem Farbholzschnitt auseinander. Das Gros der Maler rang jedoch eher mit der Suche nach interessanten Themen. Der kreative Austausch in den heimischen Ateliers war für die europäischen Künstler in der Regel bedeutsamer als das Erlebnis, für eine begrenzte Zeit in eine andere Kultur einzutauchen. „Wo soll ich aber eigentlich anfangen!! Natur, Volk und Gebräuche alles so neu! Alles eine malerische Schatzgrube!“ Bereits auf der Hinfahrt zeigte sich Emil Orlik in einem Brief aus Hongkong überwältigt von den Impressionen. Und so wie er verbanden alle Maler große Erwartungen und Hoffnungen mit der langen Fahrt, denn im Gepäck reiste stets das vorhandene Vorstellungsbild mit, das beeinflusst war vom Japonismus und von der kollektiven Japan-Imagination.

Schematische Darstellung der Reiseroute nach Japan, frei nach Reiseroute nach John Murrays »HANDBOOK FOR TRAVELLERS IN JAPAN«, (1889)

Routen

Wichtigster Gegenstand jedes europäischen Japantouristen war wohl der Reiseführer. Bereits in den 1880er-Jahren vertrauten Reisende den Ratschlägen dieser populären Hilfen. Die Bücher boten ihrer Leserschaft einerseits Orientierung andererseits führte die Auswahl der Sehenswürdigkeiten zu einem Besichtigungszwang und zu einer Entindividualisierung der Reise. Im überaus erfolgreichen »Handbook for Travellers in Japan« stellten die Autoren eine idealtypische Route zusammen, die in einem Monat absolviert werden konnte und in ähnlicher Form von vielen Reisenden unternommen wurde: Der gewöhnliche touristische Japanaufenthalt dauerte drei bis vier Wochen und fand vorzugsweise während der Kirschblüte statt.

Murrays Reiseweg startete in Yokohama und Tôkyô und führte die Reisenden von der Tempelstadt Kamakura zu der Halbinsel Enoshima. Von hier aus wurde ein Abstecher nach Hakone und zum Berg Fuji unternommen. Mit der Tôkaidô-Eisenbahnlinie fuhren die ausländischen Gäste weiter nach Nagoya und zu der alten Kaiserstadt Kyôto, samt Besuch des Biwa-Sees. Anschließend folgten Nara und Kôbe. Von Kôbe aus reiste man per Dampfschiff wieder zurück nach Yokohama, um von dort aus Nikkô mit seinen Tempeln und Schreinen zu erkunden. Auf dem Rückweg nach Tôkyô folgten weitere Zwischenstationen in den malerischen Orten Ikao, Kusatsu und Karuizawa.
Viele der beschriebenen Ausflugsziele waren bereits vor der Landesöffnung berühmte und von japanischen Pilgern viel besuchte Orte (meisho).

Karl Walser

1908 bereiste der junge Schweizer Maler Karl Walser (1877 — 1943) zusammen mit dem Schriftsteller Bernhard Kellermann (1879 — 1951) Japan. Initiiert und finanziert wurde die Reise von dem Verleger und Galerist Paul Cassirer (1871 — 1926). Cassirer versprach sich von der Unternehmung einen kommerziell erfolgreichen Reisebericht und wurde mit »Ein Spaziergang in Japan« und »Sassa yo Yassa. Japanische Tänze«, erschienen in mehreren Auflagen, entlohnt. Insgesamt vier Monate dauerte die Reise. Das besondere Interesse der Reisegemeinschaft lag bei dem japanischen Tanz. Längere Zeit verbrachten sie dafür in dem kleinen Fischerdorf Miyazu, Kellermann schriftstellerisch tätig und Walser zeichnend. Ein weiteres Highlight des Japan-Aufenthalts bot die Besichtigung religiöser Feste in Kyôto. Bei den Prozessionen wurden prachtvolle Wagen und Schreine durch die Straßen bewegt. Nach Walsers Rückkehr wurden seine Ölgemälde in Cassirers Galerie ausgestellt, wo sie viel Aufmerksamkeit erhielten. Kritiker lobten die Bilder dafür, dass diese Japan »aus europäischer Perspektive« zeigen würden und nicht versuchten, die ostasiatische Kunst zu imitieren.

Friedrich Capelari

Ermutigt durch einen japanischen Kommilitonen an der Akademie der bildenden Künste in Wien beschloss Friedrich Capelari (1884 — 1950), für einige Zeit in Japan zu leben. Um die Überfahrt zu finanzieren, heuerte er 1911 bei der Österreichischen Lloyd Schifffahrtsgesellschaft an. In Japan angekommen baute er sich eine Karriere als Künstler auf. 1915 sah der Verleger Watanabe Shozaburo (1885 — 1962) eine Aquarellausstellung Capelaris und bot dem Maler an, mit ihm Farbholzschnitte nach einem neuen Verfahren herzustellen. Bei dem shin-hanga werden Darstellungen von zeitgenössischen Künstlern direkt in der Technik des Farbholzschnitts umgesetzt, im Gegensatz zu den Ukiyo-e der Edo-Zeit, die von separaten Handwerker —  Maler, Schneider und Drucker — hergestellt wurden. Capelaris Blätter waren die ersten Grafiken überhaupt, die im shin-hanga ausgeführt wurden und trugen somit zur Erneuerung des traditionellen Ukiyo-E bei. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verlängerte Capelaris Auslandsaufenthalt deutlich: Japan und Österreich standen sich als Feinde gegenüber. Erst 1920 verließ der Österreicher den Inselstaat.

Städtische Galerie Villingen-Schwenningen (Hrsg.): Auf nach Japan! Künstlerreisen zwischen Sehnsucht und Realität, Website zur Ausstellung mit Texten von Judith Knippschild und Stephan Rößler,
Villingen-Schwenningen 2022.

Städtische Galerie
der Stadt Villingen Schwenningen
Friedrich-Ebert-Straße 35
78054 Villingen-Schwenningen

Stephan Rößler

Dr. Judith Knippschild

Farbholz­schnitte des Linden-Museum Stuttgart von Dominik Drasdow

Judith Knippschild, Stephan Rößler, Damaris Dymke, Sven Tillack, Steffen Knöll, Johannes Hucht und Janis Czapka

Prof. Dr. Peter Pantzer
NMB Neues Museum Biel
Städtisches Museum Braunschweig
Linden-Museum Stuttgart
Württembergische Landesbibliothek
Steve Sundberg